Leseprobe Fantasy-Zyklus Band 3, Kapitel 4

Nach langer Zeit habe ich mal wieder an meinem Fantasy-Zyklus »Die Zeit der Großen Wanderschaft« gearbeitet. Frei nach Heinrich Böll sei dazu noch gesagt: Ähnlichkeiten mit aktuellen Ereignissen sind weder zufällig noch beabsichtigt sondern schlicht unvermeidlich.

Narben und Wunden

»Ich habe Hunger!«, klagte Aulani patzig. Sie stolperte vorwärts, obwohl sie keine Kiepe trug. Ihr stets bleiches Gesicht mit den teigigen Wangen war voller schmutziger Schlieren, ihre Augen matt – und dennoch war sie die einzige, die nie hinfiel, die nicht eine einzige wirkliche Schramme hatte und deren Kleider zwar stanken, aber weder Löcher noch Risse aufwiesen. Ihr beständiges boshaftes Maulen hielt sie auf merkwürdige Weise aufrecht.
»Wohin gehen wir?«, fragte sie immer wieder nörgelnd. Dabei sah sie Goslindis herausfordernd an und ihre Augen glommen auf. Nur wenn Aulani provozieren konnte, kam Leben in sie, so schien es.
»Fort!«, antwortete Goslindis müde, so wie sie es in den vergangenen Tagen wieder und wieder getan hatte. Sie war der immer gleichen Unterhaltung längst überdrüssig.
»Und wie lange noch?«, verlangte Aulani zu wissen.
»Bis wir die Vostravei hinter uns haben!«, gab Goslindis gereizt zurück. Sie versuchte, einen Blick auf die hinter ihr laufende Goslina zu werfen, die sich in ängstlichem Schweigen an ihrem Tragekorb abmühte, doch ihre eigene Kiepe versperrte ihr die Sicht. Von Goslina tauchte lediglich manchmal ein schwankender Schemen auf. Sie war ein dürres kleines Ding mit viel zu kleinen Füßen in viel zu großen Holzpantinen.
»Ich will nicht in ein anderes Land!«, jammerte Aulani derweil. »Was soll ich dort? Niemand wird uns verstehen. Niemand wird uns wollen.«
Goslindis biss die Zähne zusammen. Sie antwortete nicht, weil es nichts zu antworten gab. Es hatte keinen Sinn. Sie hatte es versucht – mit Geduld, mit Strenge, mit Verärgerung, mit Verachtung und mit Logik. Aber ganz gleich, was man Aulani auch erklärte und wie man es ihr erklärte: immer, wenn man glaubte, man habe sie erreicht und sie habe es begriffen, begannen ihre Fragen von Neuem. Inzwischen hatte Goslindis einfach resigniert. Sie fragte sich nicht einmal mehr, ob ihre Kusine sie nur wütend machen wollte oder ob sie dumm war oder schwachsinnig.
Um sich abzulenken, blickte Goslindis auf ihre Füße hinunter und lauschte dem gleichmäßigen Klang ihrer Holzschuhe auf dem mit Nadeln und Laub bedeckten unebenen Hohlweg. Sie hatte früh gelernt, dass sie so am ehesten in einen gleichmäßigen Trott kam, selbst wenn sie eine volle Kiepe auf dem Rücken trug. Inzwischen wusste sie, dass sie sich auf diese Weise sogar in eine Trance versetzen konnte, die Aulanis penetrant-weinerliche Fragen in den Hintergrund treten ließ. Auf diese Erkenntnis hätte Goslindis allerdings nur zu gern verzichtet.
Die Kiepen hatten sich mittlerweile merklich geleert und schienen doch eher schwerer als leichter geworden zu sein. Weil Goslindis darauf bestand (und nur, wenn sie darauf bestand), nahm Aulani gelegentlich Goslinas Tragekorb. Um sich vorher zu stärken und hinterher wieder zu Kräften zu kommen, machte sie sich jedoch jedes mal über den Proviant her. Auch den Wein in den Schläuchen hatte Aulani binnen kürzester Zeit geleert. Betrunken war sie noch reizbarer als nüchtern und am schlimmsten war sie, wenn sie nüchtern wurde.
Inseln aus Schnee leuchteten unter den Bäumen und eiskalte Tropfen fielen von den Ästen und nachts wurde das alles wieder zu Eis. Wenn die dicht an dicht stehenden Bäume wichen oder eine gerodete Lichtung den Blick freigab auf die höher gelegenen Plateaus, sahen sie die großen Schneefelder unterhalb der Gipfel und Grate. Fast jeden Tag sahen sie Lawinen zu Tal donnern und tosend Stein und Fels und Baum mit sich reißen. Und wenn sie die Lawinen nicht sahen, hörten und spürten das unheilvolle Donnern und Grollen aus der Ferne, wie es die Erde erzittern ließ. Das Frühjahr war eine Zeit des Todes in der Vostravei. Eigentlich, dachte Goslindis, war jede Zeit eine Zeit des Todes. Besonders in ihrer Sippe.
Die drei Mädchen liefen und kletterten seit Tagen, den einen Hang hinauf, den nächsten hinunter. Sie kamen an einen Bach, über dem nebeneinander die Hälften eines gespaltenen Baumstamms lagen. Sie wurden von eisigem Schmelzwasser überspült. Goslina brach in Tränen aus. Sie wollte nicht schon wieder über eine dieser behelfsmäßigen Brücken balancieren. Das kalte Wasser biss so garstig in ihre Füße.
Aulani trieb ihre kleine Kusine schließlich mit Spott und Flüchen über den Bach, so laut und zeternd, dass man sie für den Schreier hätte halten mögen. Goslindis wich dem flehenden, hilfesuchenden Blick ihrer kleinen Schwester aus. Mit gesenktem Kopf und zusammengebissenen Zähnen machte sie sich an die Überquerung des Bachs. Ihre Holzpantinen hatte sie in die Kiepe gesteckt, um sie nicht zu verlieren. Selbst die kleinsten Wasserläufe führten um diese Jahreszeit so viel Wasser, dass alles, was hinein fiel, unwiederbringlich mitgerissen wurde. Ungefähr in der Mitte der Baumstämme hätte Goslindis allerdings am liebsten schreiend ihre Kiepe mit allem, was darin war, einfach weggeworfen, nur um schneller am anderen Ufer zu sein.
Endlich dort angekommen, war Goslindis völlig außer Atem und trotz der Kälte schweißgebadet. Goslina saß jammernd auf dem steinigen Boden und rieb sich verzweifelt die tauben Füße. Doch als die Durchblutung wieder einsetzte, war das noch schlimmer. Goslina schrie und weinte vor Schmerz.
Goslindis warf aus den Augenwinkeln einen verstohlenen Blick auf ihre Kusine. Aulani, die nie tat, was alle taten, schwieg verbissen. Hart zeichneten sich ihre Kiefer unter den Wangen ab. »Bergbäche also«, dachte Goslindis. »Ich muss das Drecksstück Aulani nur durch kalte Bergbäche jagen, dann hält sie ihr schmutziges Maul!«
Tatsächlich ließ sich Aulani nichts anmerken – nicht an diesem Bach und nicht am nächsten, nicht am übernächsten und auch nicht an irgend einem der schier unzähligen anderen Bäche und Wasserläufe, die aus reiner Bosheit ihren Weg zu kreuzen schienen.
Sie stiegen in ein schmales, unbewohntes Tal hinab, folgten ihm etwa eine Meile und bogen dann ab in eine querende Schlucht. Die Sonne glitzerte trügerisch schön in den Schneemassen an ihren Rändern. Es hallte unheimlich, wenn der Schnee in großen Brocken abplatze und in die Tiefe stürzte. Die Schlucht war fast beständig erfüllt von einem Echo.
»Genug zu essen!«, murmelte Aulani vor sich hin. »Genug zu essen und ein Dach über dem Kopf! Und ein wärmendes Feuer! Das hätten wir jetzt zu Hause!«
Geröll versperrte den Weg. Aulani kletterte keuchend und mit mahlenden Kiefern darüber. Das unterbrach ihre Tiraden für eine Weile, aber kaum, dass sie auf der anderen Seite wieder etwas zu Atem gekommen war, redete sie wie im Fieber weiter. »Wovor laufen wir eigentlich davon? Vor der Heirat? Eine Heirat ist nicht schlimm. Wenn man sich fügt, schlagen sie einen ja nicht, wenn man sie nicht reizt. Wenn man sich entspannt, tut es auch nicht so weh. Wenn man sich entspannt, ist es sogar …«
Aulanis Gesicht nahm unvermutet einen verklärten Ausdruck an. Die schräg in die Schlucht fallenden Strahlen der tiefstehenden Sonne ließen ihr entrücktes Lächeln und ihre Augen glitzern. »… richtig geil ist es dann!«, vollendete sie ihren Satz schließlich.
»Goslindis, mach, dass sie aufhört!«, heulte Goslina auf. »Sie macht mir Angst!«
Angst! Angst! Angst!, antwortete die Schlucht und zitterte. Ein Klumpen nasser Schnee ging nieder und spritze nach allen Seiten.
Aulani, scheinbar aufgeweckt aus ihrem Tagtraum, veränderte sich augenblicklich. Alles Weiche, das sie für einen Moment fast zart und mädchenhaft hatte wirken lassen, wich aus ihrem Gesicht. Sie sah zu Goslindis herüber. Ihr Blick war geringschätzig und kalt, ihr Gesicht wieder eine harte hölzerne Maske, ihre Pausbacken und die so herzig wirkende Knollennase lediglich eine niedliche Täuschung. Als sie jetzt lächelte, wirkte es, als würde ihr Gesicht dabei womöglich zerreißen.
Sie streckte Goslina die Zunge heraus, grinste gehässig und leckte sich lasziv über die Lippen. Dann wollte sie lachend weiter gehen. Doch sie kam nicht dazu. Goslindis‘ schneidende Stimme hinderte sie daran.
»Geh zurück!«, sagte Goslindis kalt.
Sie blieb stehen und wuchtete ächzend die Kiepe von ihrem Rücken, während Aulani sie lauernd ansah und versuchte, weiter ungerührt und überlegen zu wirken. »Geh zurück!«, wiederholte sie dann. »Geh zurück, in die andere Richtung, zu deiner Sippe, dem wärmenden Feuer und dem vielen Essen! Na los!«
Goslindis stapfte wütend auf ihre blonde Kusine zu und ihre Holzschuhe klapperten, als nahe eine ganze Heerschar der Wut heran. Alles in ihr sträubte sich, Aulani zurück zu schicken oder auch nur noch weiter gegen sich aufzubringen. Das verräterische Biest hätte sie sicherlich mit Freuden ans Messer geliefert. Aber Goslindis konnte nicht mehr anders. Sie wies Richtung Ausgang der Schlucht.
»Geh doch!«, forderte sie Aulani auf. »Hau ab!«
Einen unheilvollen Augenblick lang starrten sich Goslindis und Aulani wütend an. Goslina sah gespannt abwechselnd von ihrer Schwester zu ihrer Kusine und wagte kaum zu atmen. Irgendwo weit oben am Rand der Schlucht pfiff der Wind über harte Schneekanten und ließ feinste Eisnadeln regnen. Dann riss Aulani ihren Blick los, drehte auf dem Absatz um und stiefelte davon.
Goslindis schloss innerlich seufzend die Augen. »Na, wunderbar!«, schalt sie sich. »Das hast du ja großartig hingekriegt!«
Ein plötzlicher Aufschrei von Goslina ließ Goslindis zusammenzucken. Erschrocken riss sie die Augen wieder auf. Aulani war gerade dabei, dem Mädchen grob seine Kiepe vom Rücken zu zerren. Verdattert sah Goslindis zu, während das Echo ihres Schreis irgendwo in der Schlucht verendete.
Ohne ein Wort zu sagen oder ihre beiden Kusinen eines Blickes zu würdigen, schulterte Aulani die Kiepe und schritt voran, immer tiefer in die Schlucht hinein. Golindis und Goslina hatten Mühe, mit ihr mitzuhalten. Aulani kletterte mit einem mal behände wie eine Bergziege über jedes Hindernis. Goslindis und Goslina stolperten derweil nur eilig hinter ihr her.
Es wurde früh und schnell dunkel. Ein wolkenloser Himmel verschloss die Schlucht. Die drei Mädchen suchten unter einem Überhang Schutz für die Nacht. Ein Feuer machten sie wie üblich nicht. Zu erschöpft zum Reden, aßen sie stumm den kalten Proviant aus den beiden Kiepen und hüllten sich danach in ihre viel zu dünnen Decken, die am nächsten Morgen hart und steif waren. Die ganze Nacht über rollten immer wieder polternd Steine in die Schlucht. An Schlaf war kaum zu denken.
Der Winter hatte über Nacht alles Geröll mit einer heimtückischen Schicht seines gefrorenen Geifers überzogen. Eiszapfen, dick und lang wie Menschenarme, hingen in Massen von den Überhängen herab. Ihre nadelspitzen Enden glitzerten im Licht des frühen Tages. Der Wind ließ sie singen, klirren und brechen, die langsam höher steigende Sonne frostige Tränen weinen.
An den Wänden der schmalen Schlucht glitzerten erstarrte Rinnsale wie Diamantstaub, doch das Vorankommen war in dieser tödlichen Schönheit die reinste Qual. Die Schuhe der Mädchen waren nicht zum Klettern geeignet und sie hatten nichts, um ihre Hände zu schützen. An Essen und Trinken hatte Goslindis vor ihrer überstürzten Flucht noch gedacht – an mehr jedoch kaum. Sie hatten nicht mal einen Feuerstein, geschweige denn Eispickel oder Seile. Goslindis redete sich ein, dass ihr Verschwinden vielleicht früher aufgefallen wäre, wenn sie mehr mitgenommen hätten.
Mit den Kiepen geriet der Aufstieg aus der vereisten Schlucht zu einer kräftezehrenden Strapaze von vielen Stunden. Erst weit nach Mittag hatten es die Mädchen geschafft. Bis auf ein paar Schrammen und blaue Flecken mehr waren sie unversehrt. Aber sie alle wussten, ihr Glück war aufgebraucht. Goslindis‘ einziger Trost war, dass etwaige Häscher auch nicht schneller voran kommen würden.
Sie liefen weiter, immer nach Westen, und alles an menschlichen Behausungen meidend. Gegen Abend erreichten sie eine Hängebrücke, die sich über einen nebelgefüllten Abgrund spannte, aus dem die Wipfel von Nadelbäumen wie erwartungsvolle Pfähle empor ragten. Aulani brachte die Brücke absichtlich zum Schwanken. Sie lachte irre. Goslina weinte, außer sich vor Angst.
Zwei Tage später bemerkten die Mädchen, dass sie im Kreis gelaufen waren. Zwischen Aulani und Goslindis kam es darüber zum erbitterten Streit. Einen weiteren Tag später war der letzte mitgenommene Proviant aufgebraucht. Die leeren Kiepen ließen sie zurück.
Der Weg der Mädchen führte sie nun wieder beständig bergauf. Sie ließen die Bäume hinter sich und begaben sich in jenen Teil der Berge, der vollkommen nackt und öde war und in dem man fror von Wind und Eis, während die Sonne einem zugleich die Haut versengte.
Als die Mädchen den Grat erreicht hatten, gab es auf der anderen Seite keinen Weg hinunter. Unter ihnen lag nur ein riesiges, zerklüftetes Eisfeld voller tödlicher Spalten. Also liefen sie den Grat entlang, weit rechts unter sich die Schutz verheißenden letzten Bäume und links von sich Eis, so weit das Auge reichte, aufgetürmt zu bizarren Blöcken und Türmen, manchmal gleißend weiß und manchmal von einem Blau, voller als das des Himmels.
Der Wind zerrte an den Kleidern und Haaren der Mädchen. Er trieb Wolken an Berghänge und hüllte binnen Minuten in undurchdringliches Weiß, was kurz zuvor noch eine absonderliche Skulpturenlandschaft voller Bögen, Kegel und Zacken gewesen war. Er brachte dunkle Wolken, die schwer waren vom Regen, und graue Wolken voller Schnee, nur um dann höhnend abzuflauen und wieder der Sonne für eine Weile die Bühne zu überlassen.
Es kam die Nacht und es kam der Tod. Er holte keines der Mädchen und doch wussten alle drei, er war da, ganz in der Nähe und wartete.
Am nächsten Tag liefen sie weiter auf dem Bergrücken entlang, am Tag darauf immer noch. Dann endlich wurde ihr Weg abschüssig. Das Eis wich und jenseits einer kahlen Zone aus Schneefeldern und Fels tauchten Leben verheißende Bäume auf. Die Mädchen suchten sich einen Weg hinunter – hungrig, durstig, am Ende ihrer Kräfte, die Augen ständig tränend, die Lippen aufgesprungen, die Haut rot und sich schälend. Der Abstieg war so beschwerlich, dass es schien, als kämen sie überhaupt nicht voran. Aber obwohl die Bäume nur quälend langsam näher rückten, setzten Goslondis, Goslina und Aulani wie betäubt einen Fuß vor den anderen. Sie wollten auf keinen Fall in der Ödnis zwischen Gipfel und Baumgrenze übernachten müssen. Das war allen dreien ganz ohne Absprache klar.
Stunden vergingen. Zwischen Eis, Schnee, Fels und Geröll lagen manchmal bleiche Knochen und gehörnte Schädel von Bergziegen und Steinböcken, abgestürzt vielleicht oder mitgerissen von Steinschlag oder Lawinen. Käfer und Vögel hatten sie bis auf die letzte Faser Fleisch abgenagt. Beneidenswert das Getier, das selbst in dieser Gegend ein Auskommen hatte.
Wie zum Hohn stießen die Mädchen auf einen Bach, an dem sie wenigstens ihren Durst stillen konnten. Das versetzte sie in ein kurzes, irrsinniges Hochgefühl. Goslina lachte und plapperte fröhlich wirres Zeug, auf das Goslindis glücklich einstieg. Selbst Aulani konnte sich dem nicht entziehen. Hin und wieder huschte unwillkürlich ein Lächeln über ihr Gesicht, während ihre beiden Kusinen herumalberten, auch wenn sie eisern schwieg.
Auf das Hochgefühl sollte jedoch bald um so tiefere Verzweiflung folgen. Die frischen Kräfte verflogen im Handumdrehen. Und nicht nur das: Wo vorher eine Trance der Erschöpfung beinahe jegliches Gefühl abgestumpft hatte, waren Erschöpfung und Hunger jetzt wieder bleiern und beißend zu spüren.
Die einsetzende Dämmerung war es schließlich, die die Mädchen noch einmal anspornte. Tatsächlich erreichten sie die ersten Ausläufer der Bäume, just bevor es zu dunkel wurde. Doch wenn sie geglaubt hatten, damit seien sie in irgend einer Weise gerettet, sahen sich die Mädchen getäuscht. Der Wald bot leidlich Schutz vor dem Wind, nicht aber vor der Kälte. Goslindis hörte Aulani im Dunkeln vor sich hin murmeln: »Genug zu essen und ein Dach über dem Kopf! Genug zu essen und ein Dach über dem Kopf!«
Goslina wimmerte vor Hunger. Sie drängte sich ganz eng an ihre Schwester, die ihren Arm um sie legte, und doch klapperte sie noch mit den Zähnen, so sehr fror sie.
»Es wir alles gut!«, flüsterte Goslindis, doch in Wahrheit traute sie sich nicht, die Augen zu schließen, aus Angst, sie könnte nie wieder aufwachen. Also lag sie einfach nur da, lauschte dem Gemurmel ihrer Kusine, dem Wimmern ihrer Schwester und dem Knurren ihres eigenen Magens. Einmal schreckte sie hoch und geriet schier in Panik, weil sie plötzlich gar nichts mehr hörte. Doch sie war nur eingeschlummert und Goslina und Aulani in dieser Zeit offenbar auch vom Schlaf übermannt worden. Wenn Goslindis ganz still lag und lauschte, konnte sie beide unter dem Rauschen den Baumwipfel gleichmäßig atmen hören.
Im ersten Licht der Morgendämmerung schleppten sie sich mit steifen Gliedern weiter.
Wasser fanden sie reichlich, aber sonst so gut wie nichts. In diesen hoch gelegenen Nadelwäldern der Vostavei gab es allenfalls ein paar Nager und Vögel, aber kein Wild. Beeren wuchsen so früh im Jahr noch nicht und Pilze rührten sie nicht an, um nicht zu Schreiern zu werden.
Am Tag darauf jagte Aulani wie eine Besessene Eichhörnchen. Natürlich hatte sie keinen Erfolg. Sie zeterte und heulte, warf mit Steinen und trat um sich vor Verzweiflung. Danach kauerte sie sich unter einem Baum zusammen und lachte ein Weinen und weinte ein Lachen.
Am Tag darauf aßen sie Baumrinde und faserige Wurzeln, einen weiteren Tag später die wenigen Wiesenkräuter, die sie auf einer Lichtung fanden. Goslindis ertappte sich dabei, dass sie in Gedanken mit Aulani stritt, obwohl diese viel zu entkräftet war, um ihr Vorwürfe zu machen. Aber Goslindis war sich dennoch sicher, dass Aulani mit ihr schimpfte. Sie konnte sie ja hören.
Manchmal wurde eines der Mädchen auch schlagartig ganz euphorisch, ganz klar im Kopf, ganz zuversichtlich. Aber was nütze das, wenn die anderen beiden zur selben Zeit vollkommen apathisch waren.
Mit jedem Tag, der verging, verstand Goslindis mehr, warum sich wilde Tiere in die Nähe menschlicher Behausungen wagten. Die Mädchen wurden selbst immer unvorsichtiger. Hatten sie zuvor noch sorgsam darauf geachtet, nicht entdeckt zu werden, so übten Hütten, Höfe und Weiler nun eine nachgerade magische Anziehungskraft auf sie aus. So lange sie noch mit Proviant versorgt gewesen waren, war alles im Grunde genommen ein Spiel gewesen, ein Abenteuer, eine Prüfung. Ein voller Magen vertrug im Zweifelsfall auch Wind, Kälte und ein hartes Schlaflager.
Jetzt, ohne Essen, war alles anders. Die Mädchen konnten nicht mehr klar denken, sich nicht einmal mehr ärgern oder streiten. Oder sie glaubten, klar zu denken und klug zu handeln, nur um in einem lichten Augenblick zu erkennen, dass sie vollkommenen Unsinn gemacht hatten. Mit leerem Magen peinigte nicht nur der Hunger sondern auch das Wetter, die Dunkelheit und die Einsamkeit. Ein leerer Magen machte einen leeren Kopf und ein leerer Kopf machte leichtsinnig.

Eines nachts dann begann Goslina zu husten und zu röcheln.
Goslindis schreckte aus ihrem unruhigen Schlaf hoch. »Was ist mit dir?«, fragte sie besorgt ins Dunkel hinein.
»Nichts«, antwortete Goslina mit dünner Stimme und ihre Schwester konnte hören, dass sie dabei tapfer zu lächeln versuchte. »Es ist nicht schlimm.«
Goslinas Atem rasselte feucht. Das Sprechen strengte sie an. »Sie wird sagen, wir sollen … sollen irgendwo einkehren.«
»Wer wird das sagen?«, fragte Goslindis vorsichtig.
»Aulani natürlich«, erwiderte Goslina schleppend. »Sie … wird sagen, wir sollen in ein Dorf gehen. Wegen mir. Weil ich krank bin. Aber es ist nicht schlimm. Nur warm … warm wäre jetzt schön, weißt du?«
Goslindis wusste es. Hilflos zog sie ihre kleine Schwester noch enger an sich. Sie wollte etwas sagen, aber es fiel ihr nichts ein. Also hoffte sie still, dass Goslina einschlafen würde.
»Du darfst nicht auf sie hören«, murmelte Goslina. »Wenn sie … das sagt … darfst du nicht auf sie hören.«
»Schlaf jetzt«, bat Goslindis eindringlich. Sie tastete nach Goslinas Stirn und strich ihr beruhigend darüber.
»Sie … wird sagen … wir sollen warten … warten, bis uns jemand abholt«, flüsterte Goslina. »Aber ich will nicht … will nicht die Beute sein von Männern aus einem anderen Tal. Und ich will nicht die Frau werden … von … Dachs oder Marder.«
»Wirst du nicht«, versprach Goslindis, so überzeugend es ihr möglich war.
»Sie machen mir Angst!«, flüsterte Goslina.
»Ich bin sicher, du musst keine Angst vor ihnen haben«, behauptete Goslindis und lachte hohl.
»Du … lügst!«, war alles, was Goslina daraufhin noch sagte. Dann war sie eingeschlafen.

Goslindis erfuhr nie, ob Aulani von dieser nächtlichen Unterhaltung etwas mitbekommen hatte. Zumindest aber bewahrheiteten sich Goslinas Befürchtungen zunächst nicht. Obwohl sie sich nun wieder ersten Häusern und Siedlungen näherten, sagte Aulani kein Wort davon, in einem der Dörfer oder Weiler Hilfe zu suchen. Sie schlug nicht vor, an die Tür einsamer Hütten zu klopfen. Sie bestand nicht darauf, irgendwo im Warmen zu warten, bis jemand aus ihrer Sippe benachrichtigt war oder sie aufgestöbert hatte. Sie drängte nicht einmal darauf, heimlich in einem Stall oder Schober zu übernachten, wo sie hätten erwischt werden können. Doch eines Abends stand sie einfach auf und ging wortlos weg, ohne dass Goslindis in ihrem geschwächten Zustand sie hätte aufhalten können.

»Sie wird uns verraten!«, dachte Goslindis fatalistisch. Sie drehte müde den Kopf und warf einen Blick auf die im Schlaf zitternde Goslina. »Oder sie lässt uns einfach hier sterben.«
So sehr sich Goslindis danach auch bemühte, sie konnte die Augen nicht länger offen halten. Sie schlief ein und träumte, dass sie und ihre Schwester von Fliegen und Käfern zu bleichen Knochen gemacht wurden.
Tatsächlich war es eine lästige Fliege, die Goslindis aus diesem merkwürdig tröstlichen Traum weckte. Als sie die Augen wieder aufschlug, saß Aulani stumm neben Goslina und fütterte sie vorsichtig mit Brot und Dünnbier. Goslinas fragendem Blick begegnete sie trotzig. »Wir müssen weiter!«, war alles, was sie sagte.
Eine weithin sichtbare Rauchfahne führte die Mädchen zu einer Lichtung, auf der ein Kohlenmeiler stand. Dessen Hitze nutzten sie, um Goslindis ein wenig aufzuwärmen. Ein paar getrocknete Fische fanden sich obendrein. In gieriger Hast schlangen sie das salzige Fleisch, die fettige Haut und selbst die harten Flossen in sich hinein und schlugen sich dann schnell wieder in die Büsche, um nicht von einem Köhler erwischt zu werden.
Mit Einbruch der Dunkelheit verschwand Aulani erneut. Ihre Ausbeute in dieser Nacht bestand in drei Äpfeln, einer Handvoll getrockneter Pilze und etwas Kräuterschnaps, mit dem sie Goslindis Brust und Rücken einrieb.
So ging es immer weiter. In manchen Nächten hatte Aulani offenbar keinen Erfolg. Dann war sie besonders mürrisch und reizbar. Doch wenn sie mit einem Feuerstein, etwas Honigwein oder eingelegtem Kohl zurück kam, befand sie sich regelmäßig in Hochstimmung.

»Wir dürfen nicht leichtsinnig werden«, sagte Goslindis eines Tages zu Aulani, nachdem sie in der Nacht zuvor mit ein paar wärmenden Umhängen und Fußlumpen zurückgekehrt war.
»Du meinst, ich darf nicht leichtsinnig werden«, korrigierte sie Aulani bissig. Dann hielt sie Goslindis grob an der Schulter zurück. »Siehst du das?«, fragte sie mit einem grimmigen Kopfnicken. In der Ferne ragte der nächste Gipfel auf. An seiner Ostflanke türmten sich Wolken wie die erstarrte Mähne eines gigantischen weißen Pferdes. »Den haben wir noch vor uns. Und es ist vielleicht nicht mal der Höchste. Und vielleicht auch nicht der letzte.«
Goslindis schwieg, um ihrer Kusine nicht Recht geben zu müssen. Also stapfte Aulani weiter, hinter Goslina her, der es langsam etwas besser ging, seit sie wieder regelmäßig Nahrhaftes zu essen bekam.
Aulanis Diebstähle bereicherten die Mädchen nach und nach um Messer, ein Beil und Angelschnüre. Sie spitzen Stöcke an und schafften es tatsächlich, die noch trägen Fische in einigen gerade erst eisfreien Teichen damit aufzuspießen. Oder sie stahlen sich Fleisch aus Fallen und brieten es über dem Feuer.
Die Nächte waren noch immer bitterkalt, aber die Tage wurden länger, die Sonne erreichte nach und nach auch die tieferen Täler und die Luft erwärmte sich. Die Mädchen kamen voran. Einmal blickten sie in den frühen Morgenstunden in ein Tal, das sich vor ihnen ausbreitete wie ein See aus Nebel, während in ihrem Rücken langsam die Sonne aufging und Strahlen wie Bernstein zur Erde schickte.
»Die Vostravei ist wirklich schön!«, sagte Goslindis versonnen.
Aulanis Antwort bestand darin, ihr einen Stoß in den Rücken zu versetzen, als wolle sie sie in den Abgrund stürzen. Goslindis fuhr erschrocken zusammen und stolperte, doch Aulani hielt sie fest, ehe sie fallen konnte. »Ja, wunderschön!«, höhnte Aulani, lachte sarkastisch und stapfte weiter.
Einige Tage lang schien es, als würde der bedrohliche Gipfel mit der Pferdemähne gar nicht näher kommen. Vielleicht, dachte Goslindis, lag er ja viel weiter entfernt, als es den Anschein hatte. Vielleicht war er ein Trugbild und sie würden die Vostravei schon hinter sich gelassen haben, noch bevor ihnen der Berg den Weg versperrte.
Doch natürlich kam es nicht so. Ja, der Gipfel verschwand tatsächlich irgendwann – aber nur, weil die Mädchen ihn aus der Nähe nicht mehr sehen konnten. Das Gelände stieg wieder an, steiler und steiler wurden die Hänge, die Gegend mit jedem Schritt unwirtlicher. Irgendwann führte der Weg die drei Mädchen schließlich einmal auf eine kahle Felsnase. Viele Dutzend Fuß darunter standen Nadelbäume dicht an dicht. Noch immer schneebedeckt wiegten sie sich im Wind wie Wellen, so dass Goslindis bei ihrem Anblick ganz schwindelig wurde. Aulani sah es und hielt sie diesmal vorsorglich fest.
Aber es war nicht das, was den Mädchen den Mut nahm. Vor ihnen lagen immer noch schier endlose, kahle Felswände und Eisfelder – ein einziger, massiver steinerner Wall, der fast senkrecht in den Himmel ragte.
»Das schaffen wir nie!«, hauchte Goslina. Frustriert ließ sie sich auf den Hosenboden fallen.
»Können wir den Berg vielleicht umgehen?«, fragte Goslindis unsicher.
Aulani schnaubte verächtlich. »Vielleicht ja, vielleicht nein, was weiß denn ich?«
»Wenn wir ein Boot hätten, könnten wir einen Fluss hinunter fahren«, schlug Goslindis eifrig vor. »Flüsse führen ins Meer, richtig? Flüsse führen nicht bergauf!«
»Richtig!«, stimmte ihr Aulani süffisant zu. »Nur haben wir erstens kein Boot und zweitens keinen Fluss und drittens haben Flüsse in Bergen gern mal die Angewohnheit, gewisse Höhenunterschiede durch Wasserfälle zu überwinden.«
Bei dieser Vorstellung wurde Goslina bleich vor Angst.
»Vielleicht müssen wir wenigstens nicht bis hinauf zum Gipfel«, sagte ihre Schwester deshalb schnell.
»So oder so«, knurrte Aulani, »mir sind das entschieden zu viele ‚Vielleichts‘. Ich weiß nur eins: Mit dem, was wir haben, kommen wir bestimmt nicht weit. Wartet hier!«

Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sich Aulani um und verschwand zwischen den Bäumen. Anschließend vergingen Stunden, in denen Goslindis damit beschäftigt war, die nicht enden wollenden Fragen ihrer verängstigten kleinen Schwester zu beantworten. Irgendwann war Goslindis so müde und gereizt, dass sie Goslina anherrschte: »Du bist schon wie Aulani, weißt du das?«
Augenblicklich presste Goslina die Lippen zusammen und schwieg. Immer wieder schluckte sie ihre Tränen herunter, aber Goslindis machte keine Anstalten, sich zu entschuldigen. Stattdessen stand sie nach einer Weile auf und ging Feuerholz suchen. Als sie wiederkam, saß Goslina noch in genau der selben bekümmerten Haltung an genau der selben Stelle. Goslindis seufzte innerlich, aber sie konnte sich nicht überwinden, etwas zu sagen.
Aulani kam erst nach Einbruch der Abenddämmerung zurück. Stumm warf sie ihren Kusinen zwei Paar Stiefel zu und hockte sich dann an das von Goslina entfachte Feuer. Dabei stöhnte sie unwillkürlich auf.
»Wo bist du gewesen?«, fragte Goslindis besorgt.
Statt einer Antwort nahm Aulani den Sack vom Rücken, den sie an einem Riemen über der Schulter getragen hatte, und reichte ihn ihrer Kusine. Dabei achtete sie darauf, Goslindis nicht anzusehen.
»Esst!«, sagt sie seltsam nuschelnd.
Was auch immer in dem Beutel war, es duftete würzig und verführerisch. Doch so sehr Goslindis auch der Magen knurrte, sie ignorierte die Verlockung.
»Was ist passiert?«, wollte sie wissen.
»Nichts!«, nuschelte Aulani und setzte sich ächzend.
Dabei musste sie Goslindis kurz das Gesicht zuwenden. Im Feuerschein wirkte es so grotesk verzerrt, dass ihre ältere Kusine erschrocken zurückprallte. Aulanis Nase war geschwollen, ihre Lippen aufgeplatzt und blutverkrustet und ein Auge so dick und blau, dass sie darauf nichts mehr sehen konnte.
»Haben sie dich erwischt?«, fragte Goslindis und sah sich unwillkürlich nach rachsüchtigen Verfolgern um. Goslina warf derweil begehrliche Blicke auf den Beutel.
»Nein«, entgegnete Aulani knapp. »Und jetzt esst, verdammt!«
Goslina ließ sich das nicht zwei mal sagen.

Drei Tage später waren die Mädchen kaum voran gekommen, obwohl ihnen die Angst mehr denn je im Nacken saß. Bei Tageslicht konnte Aulani ihren Zustand endgültig nicht mehr verbergen. Ihr Gesicht war voller Prellungen und wenn sie sich in die Büsche schlug, um ihre Notdurft zu verrichten, hörte Goslindis sie schmerzerfüllt stöhnen, während sie ihre kleine Schwester Goslina irgendwie abzulenken versuchte.
Das Schlimmste jedoch war, dass Aulani einfach weiter machte. Jeden Tag verschwand sie, manchmal mehrmals, und kam mit Essen, Kleidung oder Werkzeug zurück. Jeden Tag kehrte sie geschundener zurück. In dem Maß, in dem es Goslina besser ging, ging es Aulani schlechter. Ihre Kleidung war zerrissen, ihre Haut voller Kratzer und Abschürfungen.
Einmal ging Aulani nicht weit und Goslindis konnte hören, was geschah. Sie hielt Goslina verzweifelt die Ohren zu, presste sie ganz eng an sich und war sich in diesen endlosen Momenten absolut sicher, dass sie niemals, niemals heiraten würde. Sie würde jeden noch so hohen Berg überqueren und Goslina notfalls huckepack durch Schnee und Eis tragen, schwor sie sich. Aber sie würde sich nicht verheiraten lassen.

Als Goslindis am nächsten Morgen die Augen aufschlug, saß Aulani mit leerem Blick am heruntergebrannten Lagerfeuer und stocherte mit einem verkohlten Ast in der Asche herum. Neben ihr hockte ein Junge von vielleicht siebzehn Jahren, ein kräftiger, zäher Bursche mit welligem sandfarbenen Haar. Er riss mit den Zähnen Fleisch von einem Knochen, den er in beiden Händen hielt.
Goslindis fuhr hoch und robbte rasch von dem Jungen weg. Durch das Geräusch aufmerksam geworden, hob er kurz den Blick. Er sah aus wie ein gelangweilter Hütehund, der sich seiner Sache sehr sicher war.
»Sie ist wach«, sagte er. »Wir können aufbrechen.«

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