Romantagebuch Teil 10: Werdegang einer Figur

Nachdem ich meine (Frei-)Zeit zuletzt vor allem auf Fußball-Blogs, Artikel zur Entwicklung der deutschen Sprache (und das häufig hysterische Medienecho darauf) und auf CD-Besprechungen für alternativmusik.de verbracht habe, möchte ich mich nun mal wieder mit einem Artikel zu meinem Fantasy-Zyklus Die Zeit der großen Wanderschaft zurück melden. Es handelt sich um eine Szene zum Werdegang der Figur Arrika, einer Frau mit buchstäblich zwei (und mehr) Gesichtern.

Die Idee zu dieser Szene ruhte zuletzt – auch aufgrund verschiedener frustrierender Erfahrungen. So musste ich zum Beispiel feststellen, dass das Veröffentlichen eines E-Books nicht mal andeutungsweise so einfach ist, wie es von den entsprechenden Plattformen dargestellt wird. Dieser Umstand an sich ist natürlich nicht sonderlich überraschend. Aber dass ich durch die Veröffentlichung meines E-Books de jure zum Gewerbetreibenden werden könnte, hat mich kalt erwischt. Das Unbefriedigendste jedoch ist, dass zu dieser Frage keine Klarheit zu erlangen ist. Im Gegenteil: Je mehr ich mich zu informieren versucht habe, desto verwirrender wurde es, desto mehr Auflagen und Fallstricke schien es zu geben. Das hat mir die Lust am Schreiben gründlich verdorben – wenigstens für eine Weile.

Als ich mich in den vergangenen Tagen daran gemacht habe, den traditionell eher ruhigen Jahresanfang kreativ zu nutzen, war ich mir des Gelingens entsprechend ehrlich gesagt nicht sicher. Um so mehr freut es mich, dass die Szene nun fertig ist. Sie wird vermutlich Teil von Kapitel 5 oder 6 des dritten Bands, von dem bislang die Kapitel Die Sippe, Wasser und Grenzen fertig sind und das Kapitel Der Stern angefangen.

Das Kapitel mit nachfolgender Szene wird aller Voraussicht nach Dunkel heißen. Zart besaitete Gemüter seien vor der Lektüre darauf hingewiesen, dass sie Darstellungen von Gewalt enthält.

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Die Luft war abgestanden, das Licht dämmrig. Es roch nach Salpeter, Steinstaub, Feuchtigkeit und Leere. Nichts war zu hören, nachdem Arrika die schwere Holztür zum Turm hinter sich geschlossen und Helligkeit und Hitze des nahenden Sommers ausgesperrt hatte. Auf nackten Sohlen ging sie leise die schmale, gewundene Treppe hinauf. Auf dem Weg nach oben musste sie immer wieder Pausen einlegen und durchatmen. Ihr Bauch machte ihr zunehmend zu schaffen. Sie kam sich vor wie ein abgehalfterter alter Gaul, so kurzatmig war sie inzwischen.
Doch wenn Arrika ehrlich war, setzte ihr nicht allein der Aufstieg zu. Da war noch mehr: die Stille, die Düsternis. Die Erinnerungen. Arrika musste sich erst sammeln und ihre Gefühle niederringen, bevor sie weitergehen konnte. Immer wieder lauschte sie. Der Turm schien verlassen – zumindest im Augenblick. Dennoch legte Arrika das Ohr an die Tür, als sie den obersten Treppenabsatz erreicht hatte und vor dem Turmzimmer stand.
Das Kämmerchen war so winzig, dass Arrika unwillkürlich den Kopf einzog. Sie war immer noch außer Atem vom Aufstieg über die steilen, schmalen Treppen. Manchmal konnte sie das Kind in sich spüren. Sie bildete sich ein, dass es kräftig strampelte und um sich trat. Das war gut. Ihr Kind musste stark werden. Und ein Junge. Ein starker, kräftiger Junge. Sie betete zu Gott Hargroth, dass es ein Junge werden möge.
Es dauerte eine Weile, bis sich Arrikas Augen an das diffuse Licht gewöhnt hatten. Es gab nur ein einziges, schmales Fenster, das im Vergleich zum restlichen Zimmer ein beißend heller Fleck an der Wand war. Warme, trockene Luft wehte herein. An den Dachbalken bauschten sich Spinnweben. Arrika schloss die niedrige Tür hinter sich. Der Luftzug erstarb.
Sie erinnerte sich an dieses Fenster. Anfangs war sie zu klein gewesen, um überhaupt hinaus blicken zu können. Sie hatte immer nur ein von Dächern eingerahmtes Stück Himmel gesehen. Wie alle Kinder hatte sie Bilder in die vorbeiziehenden Wolken phantasiert. Alles, was sich bewegte, erregte ihre Aufmerksamkeit und faszinierte sie: die Schwärme der Stare, die in Formation fliegenden und schreiend Kontakt haltenden Gänse, die Schatten schwerer Regenwolken. Die Frauen im Zimmer hatten Arrika gescholten. Sie sollte zuhören, aber jenseits des hellen Fensterchens lockte unwiderstehlich das Abenteuer. Arrika bildete sich ein, dass die gurrenden Tauben, die manchmal vor dem kleinen Fenster landeten, mit ihr redeten. Taubensprache war interessanter als das, was die Frauen redeten, während sie stickten und nähten und Spinnräder drehten.
Im Sommer fielen Mauersegler kreischend in Scharen ein. Arrika sah sie tollkühn am Fenster vorbeistürzen, pfeilschnelle, unheimliche Schemen, wie langgezogene, schattenhafte Regentropfen.
Ihre Mutter – vielleicht auch eine der anderen Frauen – hatte die Mauersegler die »dämonischen Boten« genannt und Arrika damit beinahe zu Tode geängstigt. »Wenn du in der Lage bist, einen dämonischen Boten mit bloßen Händen im Flug zu fangen, ist deine Ausbildung abgeschlossen«, hatte ihre Mutter gesagt. Arrikas kindliche Faszination für Bewegung war Wachsamkeit und Furcht gewichen. Später hatte sie gelernt, die Tauben vor dem Fenster zu vergiften. Sie hatte sogar gelernt, die Vögel mit bloßen Händen zu fangen und ihnen die Hälse umzudrehen. Sie erinnerte sich noch an das knackende Geräusch und daran, dass sie sich gewundert hatte, wie einfach es doch war, mit ihren kleinen, zarten Mädchenhänden zu töten.
Die Krähen waren immer frech gewesen, aber auch schlau. Eigentlich mochte Arrika sie deshalb, aber die Frauen im Zimmer schafften es, aus dem respektvollen Wohlwollen für die schwarzen Vögel Ärger zu machen, bis Arrika gelernt hatte, sie mit Zwille und Blasrohr abzuschießen. Es war merkwürdig – erst jetzt fragte sie sich, ob nie jemandem die vielen toten Krähen aufgefallen waren, in deren Gefieder kleine Pfeile steckten.
Arrika setzte sich auf einen alten Stuhl am Fenster und streckte ächzend die Beine aus. Sie stellte fest, dass sie nun wieder beinahe den selben Blick aus dem Fenster hatte wie damals, als sie noch ein Mädchen gewesen war. Sie verdrehte den Kopf, um mehr vom Himmel sehen zu können, aber irgendwie war er kleiner geworden. Es gab auch keine Wolken.
Irgendwo tschilpten Spatzen. Arrika hörte auch streitsüchtige Elstern schimpfen und Krähen, die versuchten, alles zu übertönen. Aber kein Vogel ließ sich blicken. Es war, als würden sie sich aus sicherer Deckung heraus warnen. Arrika musste unwillkürlich lächeln. Die Vögel waren schlau. Sie wussten mehr über dieses kleine Turmzimmer mit dem einen, winzigen Fensterchen, als die meisten Menschen – und sie mieden es. Aus gutem Grund.
In diesem Zimmer hatte Arrika ihr zweites Gesicht bekommen. Ihr erstes war nach und nach zu einer Maske geworden, die Arrika in der Öffentlichkeit und insbesondere in Gegenwart von Männern trug. Dann war sie ein liebes, höfliches Mädchen mit süßer, hoher Stimme, schüchtern, zurückhaltend, staunend, schmeichelnd, anhimmelnd und dümmlich. Sie hatte es anfangs für ein Spiel gehalten, in dessen Regeln alle – auch die Männer – eingeweiht waren. Immerhin war es doch eigentlich eine reine Posse. Doch es sollte nicht lange dauern, bis Arrika begriff, dass niemand außerhalb des Zimmers hinter ihre Maske blickte – nicht die Zofen, nicht die Küchenmädchen und die Jungs und Männer schon gar nicht. Nur bei einer einzigen ihrer Freundinnen war sich Arrika einmal nicht ganz sicher gewesen. Ihr Blick war so verschwörerisch gewesen und sie hatte gewisse Wörter so merkwürdig betont, während sie über »Handarbeiten« sprachen. Arrika war versucht gewesen, deutlicher zu werden, aber sie hatte sich nicht getraut. Einen Moment lang hatte sie sich gewünscht, mit ihrer Freundin in der geheimen Sprache der Tauben sprechen zu können. Doch dann war ihr wieder eingefallen, was mit Tauben geschah. Dennoch hatte sich Arrika von diesem Augenblick an gefragt, ob es in Rantaril wohl noch mehr kleine verborgene Turmzimmer gab. Gern hätte sie ihre Mutter oder eine ihrer Tanten danach gefragt, aber sie wusste zu diesem Zeitpunkt ihrer Ausbildung bereits genau, dass sie keine Antwort erhalten hätte. Antworten waren nur sehr bedingt Teil ihrer Ausbildung.
Arrika legte die Hand sanft auf ihren Bauch. Die zärtliche Geste kam ihr beinahe unwirklich vor, in jedem Fall aber ungeübt. Arrika war es nicht gewöhnt, sich zu schonen oder geschont zu werden. Viktor, ihr früherer Versprochener, war nachgerade keusch gewesen – wie Arrika annahm, aus Anstand ebenso wie aus Unwissenheit. Er war eben auch nur ein Mann gewesen. Schwächen zuzugeben (und alles war im Zweifelsfalle Schwäche) hätte ihn umgebracht. Nun ja, genau genommen hatte es das ja letztlich auch.
Arrika vermutete, dass Viktor auch keinen lustvollen Umgang mit anderen Frauen gehabt hatte, schließlich war sein Vater immer schon ein religiöser Eiferer gewesen, wenn auch früher nicht so wahnhaft wie jetzt. Zumindest war der gute Viktor noch ein braver Junge gewesen, als sie ihn vorübergehend aus den Augen verloren hatte. Was genau er wo mit wem getrieben hatte, bevor sie ihn dann in Mundèst wieder aufgetrieben hatte, wusste Arrika nicht. Zu diesem Zeitpunkt war von ihrem Prinzlein nicht mehr viel Höfisches und Adeliges übrig gewesen. Vielleicht war er ja von irgendeiner Tavernenhure mit Berufsehre nicht nur ausgenommen sondern auch zum Mann gemacht worden.
Als Mädchen hatte Arrika einmal verwundert eine schwarze Katze über die Dächer huschen sehen. Ihre Mutter hatte es bemerkt und war ihrem Blick gefolgt. Dann hatte sie Arrika aufgefordert, mit der Zwille auf das dürres Ding mit dem struppigem Fell zu schießen. Arrikas traurigen Blick hatte sie wie üblich ignoriert. Also hatte Arrika geschossen. Sie hatte nicht gezittert, nicht gezögert. Der Stein hatte die kleine magere Katze irgendwo am Hinterbein getroffen. Arrika hatte sie kläglich maunzen hören. Dann war das Tier zu ihrem Entsetzen abgerutscht, unaufhaltsam auf die Traufe zu. Seine Krallen hatten dabei verzweifelt über die Dachschindeln gekratzt. Arrika hatte die Katze gebannt beobachtet; ihre Mutter Arrika nicht aus den Augen gelassen.
Irgendwie war es der kleinen Katze schließlich doch noch gelungen, sich zu fangen. Das Bein hinter sich herziehend war sie zittrig und verunsichert weiter gekrabbelt, bis sie schließlich in einen Spalt unter einer Dachschindel gekrochen war.
»Du hättest noch einmal schießen sollen«, hatte Arrikas Mutter nüchtern gesagt.
Als Arrika am Abend mit ihrer Mutter nach Hause ging, wo sie wieder die gehorsame Tochter einer unscheinbaren Frau spielen würde, sah sie die kleine Katze unvermutet auf der Straße wieder. Sie humpelte stark. Arrika, schlau geworden, hatte rasch in die andere Richtung geblickt, doch ihre Mutter hatte das Tier trotzdem bemerkt.
»Soll ich sie töten?«, hatte sie gefragt.
»Nein«, hatte Arrika mit fester Stimme erwidert.
»Und wenn ich es doch tue?«, hatte ihre Mutter nachgehakt.
»Meine Zwille bekommst du nicht«, hatte Arrika gesagt. »Wenn du die Katze töten willst, tu es mit deinen eigenen Händen. Aber sie wird sich wehren. Sie wird dich kratzen und beißen. Und dann musst du Vater erklären, woher du die Wunden hast.«
Arrikas Mutter hatte ihre Tochter von oben herab gemustert. Arrika hatte verstanden.
»Wenn du versuchst, mir die Zwille abzunehmen, kratze und beiße ich dich!«, hatte sie gedroht, noch bevor ihre Mutter etwas sagen konnte. Einen bangen Augenblick lang hatten sie sich mit Blicken gemessen. Arrika hatte ihrer Mutter geradewegs ins Gesicht gesehen und sich nicht nach der Katze umgeblickt. Sie hatte gewusst, dies war eine Prüfung. Immerhin war sie damals schon elf Jahre alt gewesen.
Schließlich hatte ihre Mutter die Augen niedergeschlagen – nicht zufrieden, nicht wütend, nicht enttäuscht und nicht stolz. »Dann komm«, hatte sie gesagt. Sonst nichts. Falls Arrika hatte triumphieren wollen, zerschellten diese Gefühle an der vollkommenen Ausdruckslosigkeit ihrer Mutter.
Arrika erinnerte sich aus irgend einem Grund gern an diese Begebenheit, auch wenn ihre Ausbildung danach wahrlich nicht einfacher geworden war. Ihre Mutter hatte nie wieder ein Wort über die Katze verloren. Weder sie noch die anderen Frauen hatten Arrikas anschließende Prüfungen als Strafe bezeichnet. Sie hatten einfach nur mehr und immer mehr von ihr verlangt.
Arrika hatte damals beschlossen, sie würde so zäh sein wie die Katze vom Dach. Und das war sie geworden.
Im Laufe der Jahre war der Aufstieg über die schmale, gewundene Treppe eine zunehmend klaustrophobische Angelegenheit geworden. Auch das Turmzimmer war Arrika immer beengter vorgekommen. Aber irgendwann hatte sie begriffen, dass nicht das Zimmer schrumpfte. Sie war es, die wuchs. Diese Erkenntnis half ihr, das Gefühl der Beklemmung zu bekämpfen, das sie überkam, sobald sie zusammen mit ihrer Mutter den Turm betrat. Außerdem konnte sie inzwischen aus dem kleinen Fenster blicken, ohne dass sie dazu auf einen Schemel steigen oder von jemandem hochgehoben werden musste. Das half ebenfalls, auch wenn der Ausblick nicht gerade eine Offenbarung war. Arrika stellte fest, dass sie sich zwar in einem Turm befand, keinesfalls jedoch in irgend einer Form über den Dingen. Wenn sie aus dem kleinen Fenster blickte, sah sie nur Häuserwände, Schornsteine und Dächer. Sie hörte das Rattern von schweren Fuhrwerken, Hammerschläge und polternd gerollte Fässer. Manchmal wieherte irgendwo ein Pferd oder ein Esel schrie. Viel öfter schrien jedoch Menschen und bedienten sich dabei einer Sprache, die einer jungen Dame von Adel eindeutig nicht geziemte. Arrika sog begierig jedes Wort in sich auf.
Da es zu ihrer Ausbildung gehörte, sich zurecht zu finden, merkte sich Arrika nach einer Weile den Weg von ihrem Zuhause zum Turmzimmer. Das zählte noch heute zu ihren Stärken – die Angst vor Enge allerdings auch noch zu ihren Schwächen. Arrikas musste sich eingestehen, dass sich ihr Herzschlag nicht beruhigt hatte, obwohl sie mittlerweile schon lange still auf dem Stuhl saß und sich ausruhte.
Sie wusste selbst nicht, warum sie hergekommen war. Denn eigentlich war sie ja tot. Nach ihrem Attentat auf Prinz Viktor hatte sie ihr eigenes Ableben inszeniert – etwas Blut, ein Stück Stoff von ihrem Kleid und ein Schuh hatten genügt, um ihre Verfolger Glauben zu machen, sie sei in die Rhyx gestürzt. Danach hatte sie sich versteckt gehalten und abgewartet, sich hin und wieder in die Burg des Rebellen Runin und Essen heraus gestohlen. Rasch hatte sie erfahren, dass Viktor überlebt hatte. Ihr Ärger darüber war jedoch verflogen, als der törichte Prinz die Burg verlassen hatte, noch bevor seine Verletzungen auch nur andeutungsweise verheilt waren.
Arrika hatte ihm nachgesetzt und darauf gewartet, dass er an Schwäche, Hunger, Kälte oder Wundbrand starb – und als das nicht geschah, hatte sie nachgeholfen. Dann war sie nach Rantaril zurückgekehrt und hatte dem König ohne Umschweife gestanden, dass sie seinen Sohn an die Orothen verkauft hatte und er sich nun an Bord eines Sklavenschiffs Richtung Osten befand.
Wie erwartet hatte Lór den Bericht ungerührt zur Kenntnis genommen. Arrika hatte daraufhin geglaubt, die Geschichte sei für sie erledigt, doch zu ihrer Verblüffung hatte ihr der frisch vermählte Lór beinahe übergangslos Avancen gemacht. Das passte nicht zu seinem Wahn von der göttlichen Ordnung Hargroths und seiner zur Schau getragenen Enthaltsamkeit, weswegen es Arrika vollkommen unvorbereitet traf. Sie hatte sich dennoch nach kurzer Überlegung von ihm einen Bastard machen lassen. Möglicherweise war das Kind irgendwann in Gefahr, falls Lór Reue verspürte und seinen Fehltritt ungeschehen machen wollte. Vielleicht hatte es aber auch einen Thronanspruch. Arrika war bereit, das Risiko einzugehen. Schließlich war die Welt so oder so gerade für Kinder gefährlich.
Der Beischlaf mit Lór war eine nüchterne Angelegenheit von mechanischer Kürze gewesen, die sie dankenswerterweise nur dreimal über sich ergehen lassen musste, bis sie schwanger wurde. Danach verlor Lór jegliches Interesse an ihr. Arrika war sich ziemlich sicher, dass ihre Mutter dies alles zutiefst missbilligt hätte, denn Arrika war unvorsichtig und nachlässig. Sie ging unüberschaubare und unnötige Wagnisse ein. Sie spielte.
Ihre Mutter hatte Arrika gelehrt, unauffällig zu sein. Das war die Quintessenz ihrer Ausbildung gewesen: Bleibe unerkannt. Gib dich unwissend. Wahre den Schein. Arrika jedoch lotete die Grenzen aus. Irgend etwas trieb sie dazu. Sie gefährdete ein seit Generationen gehütetes Geheimnis der adeligen Frauen von Ayond und hatte Spaß daran.
Arrika fragte sich, ob die große blonde Angornerin ihren Angriff in der Gasse wohl überlebt hatte. Lór war sehr verärgert darüber gewesen, aber da sie sein Kind trug, ließ er seine Wut nicht an ihr aus. Vermutlich war er stattdessen mal wieder in den Keller hinab gestiegen und hatte den bedauernswerten ehemaligen Hohepriester Zaomar eigenhändig gefoltert. Der Narr Lór glaubte wahrscheinlich, Arrika wisse davon nichts. Aber natürlich war sie ihn schon vor langer Zeit gefolgt, um ihn bei seinen perversen Vergnügungen zu beobachten.
Mehr noch: Arrika wusste nicht, was Lór sonst noch im Palast trieb, wenn sie nicht da war (und sie mied das Gebäude nach Kräften), aber es war offensichtlich, dass er sein Tun nicht so gut verbarg, wie er selbst wohl glaubte. Seine naive und folgsame junge Frau mochte er täuschen, andere aber wussten nur zu gut Bescheid und hassten den König mit Inbrunst. Besonders Lórs persönlicher Diener Ulusch war das anzusehen. Arrika hatte daher beschlossen, ein Auge auf ihn zu haben – ob nun, um Lór gegebenenfalls zu retten, oder doch eher, um ihn zu verraten, stand indes noch nicht fest. Vielleicht war das nur eine Frage dessen, welches Ereignis zuerst eintrat.
Arrika verlagerte ihr Gewicht. Der Stuhl war unbequem und wackelte. Sie rieb sich ihre schmerzenden, geschwollenen Füße. Sie waren schwielig und schmutzig, seit sie damals ihre Schuhe geopfert hatte, um ihren Tod zu fingieren. (Genau genommen hatte sie das zwar nur einen Schuh gekostet, aber den zweiten hatte sie später gegen einen Teller Suppe getauscht. Gott Hargroth allein wusste, was ein Mensch mit einem einzelnen Schuh anfangen wollte, doch Arrika hatte nicht nachgefragt.)
Lór missbilligte Arrikas verhornte Füße natürlich. Er ekelte sich regelrecht, aber das hatte ihn nicht davon abgehalten, ihr ein Kind zu machen. So war er eben. So waren die Männer. Arrika lief inzwischen am liebsten barfuß. Außerdem machte es ihr Spaß, Lór zu ärgern. Sie wusste, dass er andere Leute dafür (und für weniger) bestraft hätte, doch das schreckte sie nicht. Einzig der Gedanke an den armen Zaomar, der an ihrer Stelle leiden musste, bewog sie dazu, in Lórs Gesellschaft Strümpfe und Schuhe zu tragen.
Arrikas Gedanken schweiften ab. War es ein Fehler, Lórs neuer Frau keine Beachtung zu schenken? Immerhin war es doch möglich, dass auch sie einmal mit ihrer Mutter ein Turmzimmer besucht und gelernt hatte, dass sich Nadel und Faden nicht nur zum Nähen und Ausbessern von Kleidung verwenden ließen, dass die anmutigen Bewegungen des Tanzes eine hervorragende Schule für den Kampf waren und wer kochen konnte, immer auch in der Lage war zu vergiften?
Arrika verwarf den Gedanken. Eine weitere Nachlässigkeit. Es war ihr gleichgültig. Sie begann, mit den Fingern auf ihren Bauch zu trommeln. Klopfzeichen hatten ebenfalls zu ihrer Ausbildung gehört. Außerdem konnte Arrika mit den Händen reden, während sie mit dem Mund etwas anderes, Unverfängliches, sagte.
Sie betrachtete Lórs junges Weiblein nicht als Nebenbuhlerin sondern eher wie hübsch anzusehenden Tand. Noch dazu wurde die junge Königin trotz aller Bemühungen nicht schwanger. Das nagte vermutlich sehr an Lór und trieb ihn wahrscheinlich oft den Keller zu Zaomar.
»Irgendwann wird eine kommen, die jünger ist und hübscher als du«, hatte Arrikas Mutter ihr einst erklärt. »Eine, die noch Kinder kriegen kann, mit jugendlichen, festen Brüsten. Bis dahin musst du gewappnet sein. Du musst deine Macht mit Mitteln festigen, die über die Vergänglichkeit deiner weiblichen Reize hinaus gehen.«
Arrika hatte ihre Mutter angesehen, die sie bis dahin weder alt noch hässlich gefunden hatte. Im Gegenteil, Arrikas Mutter, obschon bereits einunddreißig Jahre alt, war eine bemerkenswert gutaussehende und anziehende Frau. In ihrer Maske hatte sie ein anmutiges Lächeln. Ihre Zähne waren hell, gerade und vor allem vollständig. Allenfalls war sie zu dünn. Viel zuzusetzen hatte sie nicht. Deshalb war Arrika ein Einzelkind geblieben. Keines ihrer Geschwister hatte die Geburt überlebt. Ihre Mutter die letzte schließlich auch nicht.
Arrika hatte nie einen dämonischen Boten gefangen.

Merkwürdig laut schabte das Rasiermesser über den Hals des Königs. Ulusch legte irritiert die Stirn in Falten. Er wiederholte den Strich und wieder kam ihm das Geräusch unnatürlich vor. König Lór hatte ein so weiches Gesicht, kindlich beinahe, und sein Bartwuchs war eigentlich nicht der Rede wert. Dennoch ließ er sich jeden Tag rasieren, ohne Ausnahme.
Ulusch fragte sich, wie oft er schon in dieses schlichte, unbeteiligte Gesicht gesehen hatte. Er tauchte das Rasiermesser in eine Schüssel mit heißem Wasser und wischte es anschließend sorgfältig an dem Tusch ab, das er sich über den linken Unterarm gelegt hatte. Lór hatte die Augen geöffnet. Er schloss sie nie. Er lehnte sich auch nie zurück. Er saß stets aufrecht in seinem Stuhl vor einem Tisch und sah die Wand vor sich an, obwohl dort noch nicht einmal ein Spiegel hing. Seine Arme ruhten auf den Lehnen, deren Enden er mit den Händen umschlossen hielt.
Ulusch gab seinem König hin und wieder leise Anweisungen. »Den Kopf ein wenig nach rechts, Majestät, wenn es beliebt, danke« oder »Das Kinn ein wenig anheben bitte«, sagte er, ohne die Stimme zu heben. Ironischerweise gehorche ihm Lór wortlos. Ulusch vergaß trotzdem nie, möglichst so unbeteiligt zu klingen, wie Lór aussah. Auf gar keinen Fall durfte es sich anhören, als erteile er seinem König Befehle.
Ob Lór mit Ulusch redete oder nicht, hing gänzlich von seiner Laune ab. Manchmal kam der König lächelnd herein und begrüßte seinen Diener im Plauderton, manchmal blickte er finster und sprach kein Wort. Und manchmal lächelte und plauderte er erst, nur um während des Rasierens in grüblerisches Schweigen zu verfallen. Nur selten hingegen war es umgekehrt. Ulusch hatte sich angewöhnt, einfach immer die gleiche stoische Ruhe an den Tag zu legen und zu hoffen, dass das unverfänglich genug war.
Ulusch fiel auf, dass Lórs Stirnhaar ungleichmäßig lang war. Dabei trug er es doch normalerweise so akkurat geschnitten, als trüge er einen Helm auf dem Kopf. Seit sich der König zum Hohepriester von Ayond ausgerufen hatte, achtete er um so genauer auf einen schlichten, aber makellosen Haarschnitt als Ausdruck von Bescheidenheit und Disziplin. Nun aber lugten einzelne Haare vorwitzig etwas weiter vor als andere.
Ulusch musste kürzere Züge mit dem Rasiermesser machen, weil seine Hand plötzlich wieder zu zittern anfing. Falls Lór etwas davon bemerkte, ließ er es sich nicht anmerken. Er sah sich weiter die Wand an, während Ulusch das Rasiermesser immer wieder abstreifte. »Das Wasser ist kalt«, entschuldigte sich der Diener schließlich. »Lasst mich neues holen.«
König Lór antwortete nicht, weswegen Ulusch einen Augenblick unschlüssig stehen blieb. Dann verbeugte er sich und ging demütig gesenktem Blicks rückwärts aus dem Zimmer. Erst vor der Tür richtete er sich wieder auf und drehte sich um. Dabei erhaschte er noch einmal einen kurzen Blick auf König Lórs geraden, unbeweglichen Rücken.
Jetzt, im Sommer, brannte im Kamin der angrenzenden Kemenate natürlich kein Feuer. Also musste Ulusch den ganzen Weg durch die Burg von Rantaril bis hinunter zur Küche nehmen. Als er dort ankam, war er bleich und hatte weiche Knie.
Zwei Mädge waren in der Küche. Sie hörten sofort auf sich zu unterhalten, als Ulusch, der Leibdiener des Königs, den Raum betrat, aber ihre Augen folgten jeder seiner Bewegungen. Ulusch ging mit raschen Schritten zur Feuerstelle, über der auch in der wärmeren Jahreszeit stets ein Kessel mit heißem Wasser hing.
Es roch stark nach Ruß – genau wie König Lórs demonstrativ schlichte Kleidung diesen verräterischen Geruch an sich hatte von Rauch, Schweiß, Pech, Salpeter und Exkrementen, der Ulusch nur zu genau verriet, wo sich sein Herr am Morgen aufgehalten hatte. Er war wieder hinab gestiegen zu einem seiner Besuche bei Zaomar, dem rechtmäßigen Hohepriester und vermutlich letzten verbliebenen Hüter der Heiligen Archive.
Ulusch griff sich eine Daubenkanne, füllte sie mit heißem Wasser und ging, die Rasierschüssel in der einen und die Kanne in der anderen Hand, so schnell ihn seine weichen Knie trugen wieder zurück zu seinem König, dem Ungeheuer, dem er diente und das er einst gepflegt und vor dem Sterben bewahrt hatte. Ulusch wusste nicht, warum Lór Zaomar noch eingekerkert hielt. Die anderen Hüter der Archive waren längst tot. Einige von ihnen hatte der König wegen Hochverrats öffentlich hinrichten lassen. Die anderen hatte er benutzt, um sich im Rahmen einer Zeremonie mit viel Pathos zum neuen Hohepriester weihen zu lassen. Zu diesem Zweck hatten die Hüter der Archive alte Schriften präsentiert, aus denen hervor ging, dass Lór dazu auserkoren war, die Einheit von Ayond durch die Einheit von Thron und Glaube zu bewahren. Diese Schriften lagen in einer Halle in Burg Rantaril aus und jeder konnte sie einsehen. Viele Leute kamen und betrachteten die wundersamen Funde aus den Heiligen Archiven ehrfurchtsvoll, die gerade jetzt, in diesen schweren Zeiten der Prüfung durch die abtrünnigen Prondimarer aufgetaucht waren. Die Leute sagten, das müsse ein Zeichen sein.
Von den obersten Hütern der Heiligen Archive lebte vermutlich einzig Zaomar noch. Lór, der König, der laut Gesetz gar nicht Hohepriester sein durfte, ließ den alten Mann in unregelmäßigen Abständen als seinen »Gast« zu sich bringen, um mit ihm zu speisen und Glaubensfragen zu erörtern. Zaomar tat ihm auch immer den Gefallen, sich bei diesen Gelegenheiten zu stärken, so gut es ihm ging. Die religiösen Diskurse indes gerieten einseitig, weil Zaomar inzwischen kaum noch Zähne und keine Zunge mehr hatte. Lór hatte sie ihm herausreißen lassen, nachdem sich Zaomar als »letztes Wort« geweigert hatte, den König als neuen Hohepriester anzuerkennen. Damals war das Gaukelglas zerbrochen, durch das Ulusch seinen König stets betrachtet hatte.
Das letzte dieser grotesken Gastmahle war einige Wochen her und Zaomar konnte inzwischen freilich auch schon seinen Verletzungen erlegen sein. Ulusch wusste nicht, ob er es ihm nicht vielleicht wünschen sollte. Andererseits jedoch fürchtete er den Gedanken, dass Zaomar tot sein könnte. Dabei spielte es eigentlich gar keine Rolle mehr. Wichtig war nur, was Ulusch jetzt tat. Er sah auf seine Hand. Sie zitterte immer noch so stark, dass der Deckel der Daubenkanne klapperte. Normalerweise konnte sich Ulusch durch eine Ablenkung beruhigen, doch nicht an diesem Tag. Da wusste er, dass es so weit war. König Lór saß noch immer steif wie eine Puppe auf seinem Stuhl. Ulusch straffte sich. Es gab keinen Spiegel. Er würde den Angriff nicht kommen sehen.
»Ich bin wieder da«, informierte er den König mit sanfter Stimme. Das Zittern hörte auf. Ulusch war ganz ruhig. Er wartete ab, ob eine Reaktion erfolgen würde. Doch Lór sagte nichts und rührte sich nicht. Also setzte Ulusch die Klinge wieder an. Mit den Fingerspitzen seiner freien linken Hand neigte er das königliche Haupt ein wenig nach links. Lór machte die Bewegung bereitwillig mit. Ulusch machte einen Strich und noch einen. Das Rasiermesser glitt ruhig über das Gesicht des Königs.
»Er sieht beinahe aus wie ein Kind«, überlegte Ulusch. »Ein Bart würde ihm vielleicht ein etwas männlicheres Aussehen verleihen.« Der Diener seifte das Gesicht seines Herren noch einmal ein. »Ich schiebe es nur auf«, dachte er plötzlich. Der Hals des Königs befand sich entblößt und schutzlos vor ihm. Ulusch sah die Schlagader. Sie pulsierte nicht, ganz so, als habe Lór kein Herz.
Ulusch beschloss, es herauszufinden. Seine Hand schloss sich ruckartig um das Kinn des Königs. Lór begriff nicht. Selbst als sich das Rasiermesser in seine Haut bohrte und Blut floss, verstand er nicht, was vor sich ging. Seine Augen weiteten sich vor Schreck und Schmerz und er erwartete wohl, dass Ulusch zusammenzucken und von ihm ablassen würde, um sich danach tausendfach unterwürfigst zu entschuldigen. Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen folgte ein neuer Schnitt. Instinktiv schrie Lór auf, auch wenn er im Grunde genommen immer noch nicht verstand. Aus seinem Mund drang ein ersticktes Stöhnen, weil Ulusch ihm die Kiefer aufeinander presste. Lór biss sich auf die Wange. Er schmeckte Blut – und er roch plötzlich auch Blut. Er hörte Ulusch vor Anstrengung keuchen. Er hörte den Stuhl knarren und sah verwirrt auf seine eigenen Hände. Verwundert stellte er fest, dass sich seine Finger krampfend um die Armlehnen geschlossen hatten.
Lór riss den Kopf herum. Uluschs Rasiermesser glitt ab. Ehe er erneut ansetzen konnte, packte der König seinen Arm und drückte ihn mit aller Kraft weg. Er war ein schmächtiger Mann – aber ein schmächtiger Mann, der leben wollte, auch wenn sein ganzes erbärmliches Dasein nur aus Hass und Wut und Misstrauen bestand. Und so zappelte er wie ein Fisch auf dem Trockenen, während sich sein Hemd rot färbte.
Ulusch betete, dass der König schwächer werden möge, doch welche Verletzungen er ihm auch immer zugefügt haben mochte, sie waren zu oberflächlich. Ulusch sah das Blut aus den Wunden fließen, er sah das verzweifelte Muskelspiel seines Opfers, die Sehnen und Adern, die Knochen und Knorpel und das Fleisch, alles unmittelbar vor sich, und alles Niedere in ihm schrie danach, mit dem Rasiermesser hineinzustoßen und dem Leben dieses unwürdigen Königs ein Ende zu machen.
Doch Ulusch war kein Mörder. Der kurze Augenblick der Entschlossenheit hatte nicht genügt, Lór mit einem schnellen, brutalen Schnitt zu töten, wie es nötig gewesen wäre. Ulusch zögerte – nicht lange genug, als dass sein Verstand wieder eingesetzt hätte, denn dann hätte er Lór getötet, nein, Ulusch zögerte nur gerade so lange, dass sein Mitgefühl und sein Gewissen sich regen konnten. Seine Erziehung fiel ihm wieder ein und mit ihr all das, was er sein Leben lang über die Unabänderlichkeit der göttlichen Ordnung gelernt hatte.
Lór strampelte. Er stieß polternd gegen den Tisch an der Wand. Die Schüssel mit dem heißen Wasser fiel herunter und zerbarst klirrend. Ulusch erkannte keine gezielte Bewegung in Lórs Zuckungen. Er brachte dem König einen weiteren Schnitt an der Wange bei und ein plötzliches Triumphgefühl durchflutete ihn. Er sah, dass Lór Angst hatte. Der König schnaufte und ließ das Rasiermesser keine Sekunde aus den Augen. Er wich zurück. Er wand sich. Aber Ulusch schnitt ihn wieder und wieder und wieder.
Doch dann änderte sich etwas. Lór erstarrte und mit ihm das Poltern und Knarren der Möbel. Und weil Ulusch kein Mörder war, nutze er diesen so entscheidenden Moment nicht aus. Stattdessen drehte er den Kopf. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Lór Halt gefunden hatte. Er stemmte sich mit den Füßen gegen die Tischplatte. Als Ulusch begriff, war es schon zu spät. Lór stieß sich ab, der Stuhl kippte und Lór war frei. Ulusch stolperte und trat in eine der herumliegenden Scherben. Sie bohrte sich durch seinen Wendeschuh in seine Fußsohle.
Ulusch schrie auf. Im nächsten Moment ging Lór brüllend auf seinen Diener los. Während Ulusch sich noch zu orientieren und den Schmerz zu unterdrücken versuchte, hatte Lór sich schon längst wieder aufgerappelt. Ulusch sah ein rotes, blutüberströmtes Gesicht auf sich zurasen, wutentbrannt und voller Hass, den Mund aufgerissen und schrill schreiend. Lór griff mit ausgestreckten Händen nach der Kehle seines Dieners, Ulusch griff nach seinen Handgelenken und wehrte ihn ab, nur um gleich darauf von Tritten gegen das Schienbein getroffen zu werden.
Es ging alles zu schnell für Ulusch. Er fand, dass Lór eigentlich noch gar nicht wieder auf den Beinen sein dürfte, dass er doch eigentlich noch gelähmt hätte sein müssen vor Schreck und Schmerz oder, wenn schon nicht das, dann doch wenigstens so verwirrt, orientierungslos und erschöpft wie er. Stattdessen jedoch traktierte ihn der Mann wie wild mit Schlägen und Tritten.
Lór rammte Ulusch das Knie ins Gemächt. Der Diener ging stöhnend zu Boden. Lór trat ihm ins Gesicht. Uluschs Nase brach. Sein Kopf wurde gegen die Tischkante geschleudert. Haut platze auf, Blut strömte aus der Wunde. Dann war Lór mit einem heiseren Aufschrei über Ulusch. Blindlings griff er sich eine große Scherbe, holte aus und stach zu.

Arrika erfasste sofort, dass etwas nicht stimmte. Sie kannte diese Leere, wenn auf einmal alle Bediensteten der Burg wie vom Erdboden verschluckt waren, auseinander gestoben wie Küchenschaben im Licht, oder wenn die, die sich nicht rechtzeitig verdrückt hatten, beredt schwiegen und betreten und verhuscht dreinblickten. Deshalb hielt sie sich auch nicht lange mit Fragen auf. Sie wusste, dass sie ohnehin keine Antworten erhalten hätte. Arrika fluchte halblaut. Sie hasste es, hinter Männern aufräumen zu müssen.
Auf ihrem Weg in die oberen Gemächer der Burg von Rantaril überlegte sie, was Lór nun schon wieder angestellt haben mochte. War er während eines seiner inszenierten religiösen Diskurse mit Zaomar in Rage geraten und hatte ihn getötet? Das würde sich selbst in der Burg des Wegschauens mit all ihren Angsthasen kaum vertuschen lassen. Da wäre es schon besser, Lór hätte mal wieder willkürlich einen Laufburschen verprügelt oder eine Magd begrapscht.
Arrika hatte den obersten Treppenabsatz noch nicht ganz erreicht, als sie erstarrte. Die Tür zu Lórs Schlafgemach stand offen. Jemand stöhnte und in der Luft lag dieser metallische Geruch, den Arrika selbst mit benebelten Sinnen unter Tausenden anderen erkannt hätte. Ihr Herz setzte einen Wimpernschlag lang aus. Sollte sie hoffen oder bangen?
Schließlich ging Arrika mit einigen schnellen, festen Schritten in das Zimmer. Ein Blick und ihr war klar: Diese Schweinerei weg zu machen, würde länger dauern als üblich.
Lór saß stöhnend auf seinem Bett und presste sich ein Stück Stoff auf sein linkes Ohr, das jedoch schon längst vollgesogen war mit Blut und unablässig tropfte. Außerdem hatte er eine Vielzahl von Wunden im Gesicht und auf der Stirn. Auch seine rechte Hand wies einen derben Schnitt auf, wie Arrika feststellte. Der Grund dafür war offensichtlich eine Tonscherbe, die vor dem Bett auf dem Boden lag.
Arrika verschaffte sich rasch einen Überblick. Lórs Augen waren glasig und er brabbelte blutig sabbernd von Verrat und Undank. Außerdem weinte er und versicherte Gott Hargroth, dass er auch diese Prüfung demütig annehmen und bestehen werde, so unbegreiflich sie ihm auch sein mochte. Kurz und gut, König Lór von Ayond verhielt sich eigentlich nicht ungewöhnlich und nachdem sich Arrika einmal davon überzeugt hatte, dass er zwar blutete wie ein angestochenes Schwein, aber nicht weiter in Gefahr war, machte sie sich auf die Suche nach dem Angreifer – oder wenigstens nach dem armen Tropf, der sich Lór widersetzt hatte.
Lange musste sie nicht suchen. Die Blutspuren wiesen ihr überdeutlich den Weg. Arrika fand Ulusch in der angrenzenden Kemenate röchelnd am Boden liegend. Es überraschte sie kaum, dass der Leibdiener der Täter war. Er war weit schlimmer zugerichtet als der König. Arrika blieb dennoch wachsam und hielt zwei Armeslängen Abstand, während sie ihn betrachtete. So weit sie erkennen konnte, war Uluschs linke Wange aufgeschlitzt und den Deformationen in seinem Gesicht nach zu urteilen war er brutal geschlagen und getreten worden. Ja, das war eindeutig Lórs Handschrift.
Die schlimmsten Wunden hatte Ulusch allerdings an den Händen und Unterarmen. Arrika erinnerte sich an die Tonscherbe im Nebenraum. Lór hatte zugestochen und sich dabei selbst in die Hand geschnitten. Ulusch hatte ihn abzuwehren versucht. Besonders gut war ihm das indes nicht gelungen. Unterhalb von Uluschs linkem Schlüsselbein – vielleicht auch darin – klaffte eine tiefe Wunde. Arrika vermutete ein abgebrochenes Stück Tonscherbe darin. Möglicherweise war das der Grund, warum Ulusch noch lebte. Ohne Spitze war die Tonscherbe nicht mehr scharf genug gewesen.
Arrika ging neben Ulusch in die Hocke und sah ihn kopfschüttelnd an. »Du Narr!«, sagte sie vorwurfsvoll. »Du törichter, törichter Narr!«
Ulusch regte sich. Eine Art Krächzen entwich seiner Kehle. Er versuchte, sich aufzurichten, sank aber gleich darauf wieder kraftlos zurück.
»Du hast es wegen des Hohepriesters getan, nicht wahr?«, fragte Arrika. »Edel von dir – aber du bist für derlei Dinge nicht geschaffen. Du bist ein Diener, und nicht der Diener sucht sich den Herrn, der Herr sucht sich den Diener. Dein Herr war der König. Du konntest dich glücklich schätzen.«
Ulusch hustete und verspritzte dabei Blut. Arrika zog derweil ungerührt einen Dolch unter ihrem Gewand hervor. Auf etwas mehr oder weniger Dreck kam es nun auch nicht mehr an.
»Du hättest auf seine Augen zielen sollen«, erzählte sie. »Er hat es getan, wie ich sehe.«
Sie erhob sich, drehte den Dolch spielerisch in die Luft und fing ihn wieder auf. Dabei musterte sie Ulusch von oben herab verächtlich. Schließlich hielt sie den Dolch an zwei Fingern über Uluschs Kopf und ließ ihn fallen. Die Klinge bohrte sich genau neben dem rechten Ohr des Dieners in den Boden und blieb mit einem dumpfen Plock! stecken.
»Tu das Richtige damit«, riet Arrika kühl. »Du weißt, was mit dir geschieht, wenn er dich lebend bekommt.«
Ulusch sah Arrika aus verquollenen Augen an. Langsam griff er nach dem Dolch. Er musste verschnaufen, ehe er ihn aus den Holzdielen herausziehen konnte. Seine Brust hob und senkte sich schnell. Nur unendlich langsam und unter großen Schmerzen gelang es ihm sich aufzusetzen. Dennoch hatte Uluschs Blick etwas so Lauerndes, dass Arrika unwillkürlich vor ihm zurück wich. »Ah, ah, ah!«, machte sie tadelnd. »Das würde ich an deiner Stelle nicht versuchen. Lór pflegt dich im Zweifelsfalle höchstpersönlich gesund, um dich anschließend um so länger foltern zu können. Möchtest du einen Platz neben deinem verehrten Hohepriester? Oder vielleicht einen in der Zelle nebenan? Ich bin mir sicher, ich kann das für dich einrichten.«
Arrika fixierte Ulusch so lange, bis er sich schließlich stöhnend auf den Boden zurücksinken ließ. Dann nickte sie grimmig, verließ die Kemenate, ohne sich noch einmal umzublicken, und schloss die Tür hinter sich.
Lór saß noch immer apathisch auf seinem Bett und war nicht ansprechbar. Zumindest aber hatten viele seiner Wunden inzwischen offensichtlich zu bluten aufgehört. Dennoch sah der König grotesk aus. Er war kreidebleich, seine Lippen bläulich und Rinnsale aus Blut leuchteten rot in seinem Gesicht. Arrika riss eine Truhe auf, die in einer Ecke des Schlafgemachs stand. Darin fand sie Lappen, Tücher und Verbände sowie gleich mehrere verkorkte Flaschen mit stark alkoholhaltigen Tinkturen. In dem Wissen um Lórs Anfälle von Raserei hatte ausgerechnet Ulusch die Sachen in der Truhe deponiert, um sie jederzeit greifbar zu haben.
Arrika nahm einen Lappen, tränkte ihn in die brennende Flüssigkeit aus einer der Flaschen und begann routiniert, Lórs Gesicht von Blut und Schorf zu befreien. Sie ging zügig vor und war dabei nicht zimperlich. Einige der Wunden brachen prompt wieder auf und königliches Blut lief in dicken, zähen Tropfen zu Lórs Kinn herunter.
Als er den Schmerz spürte, erwachte der König langsam aus seiner Erstarrung. »Hast du dich um ihn gekümmert?«, lautete seine erste Frage.
»Ja, habe ich«, erwiderte Arrika schlicht. »Er ist tot.«
Lór brummte zufrieden und hielt ansonsten absolut still, während Arrika ihn verarztete. Nachdem sie fertig war, zierten mehrere Nähte Lórs Gesicht. Ohr, Hand und Stirn waren verbunden. Arrika betrachtete ihr Werk und kam zu dem Schluss, dass auch Narben den König nicht verwegener aussehen lassen würden. »Ganz wie sein Sohn!«, dachte sie und schüttelte benommen den Kopf. Der scharfe Geruch der Tinktur drohte sie zu benebeln.
»Ich muss mich ausruhen«, sagte sie erschöpft.
»Und wer kümmert sich um das alles hier?«, rief Lór empört. »Wer befreit mich vom stinkenden Leichnam dieses … dieses Verräterschweins?«
»Einer deiner Diener«, schlug Arrika sarkastisch vor.
»Aber wem kann ich noch trauen?«, fragte Lór.
»Du bist der König. Also am besten niemandem!«, dachte Arrika bei sich. Laut sagte sie das nicht.
Lórs Blicke irrten derweil in den Chaos aus umgestürzten Möbeln, Scherben, blutgetränkten Laken und Verbänden umher. »Wo soll ich nur schlafen?«, murmelte er verwirrt.
»Bei deiner Frau zum Beispiel?«, säuselte Arrrika bissig.
Lór sah sie an und nickte geistesabwesend. Er stand auf und stakste unbeholfen zur Tür der angrenzenden Kemenate.
»Wo willst du hin?«, fragte Arrika alarmiert.
Lór nuschelte irgendetwas und schlurfte in den Nebenraum. Arrika lehnte sich mit der Schulter an die Wand, seufzte resigniert und wartete. Nichts geschah. Arrika betrachtete eingehend ihre Fingernägel. Sie waren blutig.
»Wo ist er?«, fragte Lór.
»Wo ist wer?«, fragte Arrika gelangweilt zurück, ohne dem konsternierten Tonfall des Königs Beachtung zu schenken. Das sollte sich jedoch gleich darauf ändern.
»Wo ist er?« Dieses mal schrie Lór. »Wo ist er?«
Es folgte eine nicht enden wollende Reihe von Flüchen und Verwünschungen. Arrika runzelte verärgert die Stirn. Sie stapfte hinter Lór her und hatte schon zu einer wütenden Entgegnung angesetzt, als sie offenen Mundes erstarrte.
Ulusch war weg. Wo eigentlich seine Leiche hätte liegen sollen, befand sich nur ein heller Fleck in einer Blutlache.
»Das ist doch nicht zu glauben!«, flüsterte Arrika fasungslos.

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