Der Kampf mit dem Kunstbegriff

Was ist Kunst?

A propos »Kunst«: Durch meine frühen und andauernden Erfahrungen und Auseinandersetzungen mit diesem Thema habe ich ein eher zwiespältiges Verhältnis dazu. Ich kann mich bis aufs Blut mit Menschen streiten, die in ihrer Bildungsferne etwas als »keine Kunst« abtun, nur weil sie neidisch sind oder ihnen Ahnung oder Zugang zur Materie fehlen. Ebenso kann ich mich allerdings auch bis aufs Blut mit Menschen streiten, die aus genau den gegenteiligen Gründen zu dem Schluss kommen, etwas sei »keine Kunst«, denn beiden Gruppen ist eine Intoleranz gemein, die sie von ihren Ansichten her nah an Diktaturen rückt.

Vor diesem Hintergrund entstand auch folgende Passage aus dem Roman Jos Leben, den ich zwischen 1996 und 2006 geschrieben habe:

Nick hatte es nie gern gesehen, wenn Danni sich Jo näherte. Aber Jo war eben das, was Daniels Definition von Künstler am nächsten kam. Ein Bohémien. Und da Danni eben auch gerne Künstler gewesen wäre, klinkte er sich bei Jo ein. Nick war sich nicht sicher, ob Jo das genauso empfand. Sie sah nur zu, wenn Jo und Danni über Texte und Musik sprachen. Jo schien Danni als eine Art Kritiker akzeptiert zu haben, denn immer, wenn er etwas Neues geschrieben hatte, fragte er bei Danni nach, ob er es ihm vorspielen könne. Nick trat Danni für diese Zeiträume ab, denn der Künstlerkram ließ sie kalt. Zu Hause hatte es immer nur Beethoven gegeben. Natürlich hatte Nick auch neun Jahre lang klassisches Klavier gelernt. Ihre radikale Abkehr von allem, was sie heute als aufoktroyiert empfand, brachte auch eine Art Aversion gegen angebliche oder tatsächliche Künstler und jede Diskussion darum mit sich.
Nicks Tag war nie mit dem Sandmännchen oder der Sesamstraße zu Ende gegangen. Nick entstammte einem kultivierten Haushalt, war quasi mit Hermann Hesse und Nietzsche aufgewachsen und selbstverständlich mit Grimms Märchen und später mit ausgewählter Jugendliteratur ins Bett gebracht worden. Schon im Kinderwagen war sie durch Museen geschoben worden, hatte die Abende in Galerien und bei Empfängen verschlafen. Zur Konfirmation war sie in der Oper gewesen, und so weiter, und so fort. Nick erinnerte sich, dass sie als Kind oft Erwachsene aus der Froschperspektive beobachtet hatte, wie sie in Grüppchen herumstanden und sektgestützte Diskussionen führten. Sie hatte sich einen Spaß daraus gemacht, einfach alles nachzusprechen, was sie hörte. Monotone Stimmen, weit entferntes Gelächter. Darüber war sie dann meistens eingeschlafen.
Nick hatte vor großen blauen Leinwänden gestanden und sich von ihrem Vater belehren lassen, dass sie nicht blau sondern Kunst seien. Sie hatte Tonklumpen betrachtet, aus denen sie beim besten Willen nichts erkennen konnte und sich sagen lassen, das sei Kunst. Sie hatte Skulpturen gesehen, die ihr Angst machten und die sie hässlich fand. Kunst. Nick hatte geschaudert, und Nick hatte gezweifelt. Offensichtlich gab es neben Gefallen und Nichtgefallen noch etwas Übergeordnetes, das sie nicht verstand. Sie war aufgewachsen mit der widerspruchslosen Akzeptanz dessen, was Experten und Kritiker zur Kunst erhoben, hatte aber schon früh das Gefühl nicht loswerden können, dass mancher Fachmann oder manche Fachfrau sich beim gewagten Spagat zwischen Toleranz und Diktat einen Adduktorenriss zuziehen würden. Kritiker fand Nick überheblich, ihr Fußvolk borniert und Diskussionen um einen Kunstbegriff ebenso sinnentleert wie lachhaft. Diskussionen um Kunst waren der Smalltalk besserer Kreise. Anderswo unterhielt man sich eben über die Wochenendergebnisse in der Bundesliga.

(Jos Leben, Kapitel 4: Nick)

Lesefortschritt:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert